Antiqua!

Otto Moſer

Lindenau

Die meiſten Dörfer in Leipzigs Umgebung ſind, wie ſchon mehrfach bemerkt wurde, mit unſerer Stadt von faſt gleichem Alter und gleicher Entſtehung. Ob manche derſelben, und Leipzig ſelbſt, ſchon zur Zeit der im fünften Jahrhundert hier anſäſſigen Hermunduren vorhanden waren, läßt ſich hiſtoriſch nicht nachweiſen. Dagegen aber wiſſen wir, daß die den Hermunduren folgenden Slaven unſere Gegend eigentlich coloniſirten und eine große Menge durch ihre ſlaviſchen Namen noch jetzt kennbare Anſiedelungen gründeten. Nach Unterjochung der Slaven durch die Deutſchen wurden auch von dieſen einige Dörfer angelegt und zu ihnen ſcheint, nach dem Namen zu urtheilen, Lindenau zu gehören. Nimmt man an, daß das Dorf früher nicht einen ſlaviſchen Namen gehabt habe, ſo fällt ſeine Entſtehung ungefähr in das zehnte Jahrhundert.

Lindenau iſt der Stammſitz der noch blühenden Familie von Lindenau, von welcher zuerſt Ritter Heinrich von Lindenau in einem 1216 ausgeſtellten Diplom genannt wird, welches Markgraf Dietrich von Meißen dem Kloſter Zelle gab. Eine lange Reihe ausgezeichneter Männer geiſtlichen und weltlichen Standes ſind bis auf die neueſte Zeit aus dem Geſchlecht der Lindenaus hervorgegangen. Der alte Ritterſitz läßt ſich noch jetzt erkennen. Er befand ſich ungefähr auf der Stelle, wo jetzt das hohe Haus mit zahlreichen Fenſtern, früher das Herrenhaus des Sickel’ſchen Gutes, in nächſter Nähe der Kirche, ſteht, und [es] findet man in deſſen Nähe auch die Spuren des Wallgrabens, welcher noch vor mehreren Jahren weit ausgedehnter war, da er, nach alter Einrichtung, den ganzen Edelſitz umfaßt haben mag. Die uralte Kirche ſtand unter dem Schutze der nahen Burg, wie man dies überall findet, da die Slaven in der erſten Zeit ihrer Unterjochung nicht ſelten gegen die Tempel des ihnen aufgedrungenen Gottes Gewalt verſuchten. Im Jahre 1021 war das Werk der Bekehrung auf jeden Fall ſchon vollendet, denn Kaiſer Heinrich II., welchen man den Frommen nennt, ſchenkte dem Biſchof Dietmar von Merſeburg in dieſem Jahre, als Tafelgut und Leibgedinge die Stadt Leipzig mit den umliegenden Dörfern, wozu auch Lindenau gehörte. Vielleicht zu dieſer Zeit iſt es auch geweſen, daß Leutzſch in den Beſitz der Herren von Lindenau gelangte. Dieſer Zweig nahm den Namen des Ritterſitzes an und baute das Schloß, von welchem man noch jetzt den großen Schmidtſchem Gute — dem ehemaligen Oekonomiehofe der Burg — gegenüber, ein altes Gebäude zwiſchen Wallgräben wahrnimmt. Die Wappen der Herren von Lindenau und der von Leutzſch ſind einander gleich, eine Linde mit Sternen, und dies beweiſt beider Familien gleichen Stamm.

Der Rath zu Leipzig ſuchte mit dem wachſenden Wohlſtande der Stadt, wo es ſich nur immer thun ließ, Grundbeſitz und namentlich Rittergüter zu erwerben und brachte im 16. Jahrhundert auch Lindenau an ſich. Die Umſtände dieſes Verkaufs ſind nicht ganz klar, und die Chroniſten ergehen ſich darin ſogar in Widerſprüchen. Noch vorhandenen, urkundlichen Nachrichten kaufte der Rath das Rittergut Lindenau im Jahre 1527 für 9000 Gülden. Zu dieſer Zeit hatten die Lindenaus Machern an ſich gebracht und gaben deshalb ihren alten Stammſitz auf. Im Kaufbriefe wird beſonders Rittergut und Kirche mit dem Unterdorfe, zum Unterſchiede vom Oberdorfe angeführt, das ſchon früher Rathseigentum, wohl ſeit 1519, und der Stadt von Wolff von Lindenau verkauft worden war. Es wird behauptet, Sigismund von Lindenau, Biſchof von Merſeburg, habe lange dieſer Veräußerung des Stammhauſes ſeiner Familie widerſtrebt. Die Sage erzählt, daß dieſer Biſchof aus Befürchtung vor den begehrlichen Gelüſten der um ſich greifenden Reformation einen großen Schatz an Gold und Silbergeld und koſtbaren Kirchenkleinodien nach Lindenau geflüchtet und auf dem Terrain des alten Schloſſes vergraben oder vermauert haben ſoll. Bis heute hat jedoch noch Niemand denſelben aufgefunden, oder wenn es geſchehen ſein ſollte, wenigſtens darüber klüglich reinen Mund gehalten. Damals hatte Lindenau 40 Höfe und darunter 5 Erbpferdner. Die Gerichtsbarkeit erſtreckte ſich auch über das wüſte Dorf, „die Petſcher Mark“ genannt. Das Leipziger Weichbild ging bis mitten auf die in der Nähe des Gaſthofes befindliche Brücke. Außer den Geld- und Getreidezinſen nennen die alten Verzeichniſſe als Leiſtungen Triftgeld, Lehnwaare, Branntweinblaſen- und Backofenzins, Schutzgeld von Handwerkern, Hausgenoſſen und Abzugsgelder. Ferner war bei dem Jahresgericht eine Mahlzeit zu liefern und wenn dieſe nicht abgehalten wurde, 2 Gülden 18 Groſchen. Für jeden peinlichen Rechtsfall hatte die Gemeinde zu den Koſten 24 Gülden beizufügen. Die Wittwe erbte den dritten Theil des Nachlaſſes, der Wittwer zwei Drittheile. Waren 2 Söhne vorhanden, hatte der jüngere Bruder den Vorkauf des Grundſtückes, und bei ſonſtigem Verkaufe eines ſolchen mußte es 14 Tage vor dem Abſchluſſe der Gemeinde angeboten werden. Ganz beſonders wird bei den Frohndienſten erwähnt, daß wenn der Ritterſitz wieder aufgebaut werden ſollte, ſolche geleiſtet werden müßten. Weshalb das Schloß abgetragen wurde, iſt nicht erwähnt. Die Felder wurden verkauft, doch ſcheint ein bedeutender Theil bei dem vormaligen Edelhofe geblieben zu ſein, wie denn bei Anlegung der Bachſchen Ziegelei zu dem Sickelſchen Gute — der alten Rittergutsſtätte — allein dort hinüber 25 Acker Wieſen gehörten. Später wird der Lehmannſchen Schenke, des jetzigen Gaſthofs zu „den drei Linden“ gedacht, welcher von jedem Faſſe Eilenburger, Wurzener und Torgauer Bier 10 Groſchen 6 Pfennige Spundgeld entrichten mußte, wegen des Merſeburger Bieres aber, was noch bis zum Anfange dieſes Jahrhunderts ſo vielen Leipziger Beſuch hierher zog, mehrere Prozeſſe auszufechten hatte. Sonſt hatte die Gemeinde auch noch an die Stadt Markranſtädt 20 Groſchen Heerfahrtswagengeld zu bezahlen. Im Jahre 1740 beſtand Lindenau aus drei Gaſthäuſern, 72 Häuſern und der 1710 erbauten Mühle. Genannte Mühle erkaufte der Rath am 14. Juni 1672 von den Bittnerſchen Erben, welchen ſie um 7000 Gülden cedirt worden war, für 3325 Gülden wieder zurück. Die Einwohnerzahl Lindenaus war 1834 in 78 Häuſern 955 und 1840 am Schluſſe 1553. Durch neue Anbauten unaufhörlich vergrößert, war am Schluſſe des Jahres 1864 die Bevölkerung auf 5103 Seelen angewachſen.

Bis zur Reformation, die hier wegen der Abhängigkeit der Gegend von dem Bisthume Merſeburg erſt 1553 eingeführt wurde, war Lindenau Pfarrdorf, und Leutzſch Filial. Die Lindenauer Pfarre hatte 56 Acker Feld, welche jedoch nur zur Hälfte mit dem Leutzſcher Pfarrlehn verbunden wurden. Eine Hauptreparatur und Erweiterung der Kirche fand 1742 ſtatt, auch erhielt ſie damals eine neue Orgel. Deren vor etwa dreißig Jahren neuerbaute Nachfolgerin koſtete 425 Thaler. Die Glocken tragen die Jahreszahlen 1483, 1628 und 1637. Alterthümer und Merkwürdigkeiten beſitzt die Kirche nicht, dieſe wurden durch die Reformation hinaus geworfen. Unter dem Altar befindet ſich wahrſcheinlich die Erbgruft der Familie von Lindenau. Auch mehrere Pfarrer wurden in die Kirche begraben, und ſelbſt noch 1694 fand hier der Paſtor Mag. Erhardt Müller ſein letztes Ruhekämmerlein.

Was die Schickſale Lindenaus anbetrifft, ſo brachte ſeine Lage an der Hauptſtraße nach Thüringen, dem Reiche und Frankreich es bei Kriegsläufen oft in große Bedrängniß. Im Jahre 1631 wurde es geplündert und theilweiſe niedergebrannt, ebenſo 1637 und 1642, erhob ſich jedoch durch ſeine glückliche Nachbarſchaft an Leipzig begünſtigt immer wieder zu blühendem Wohlſtande. Vom 14. bis 19. October 1813 kämpften beide Parteien wüthend um dieſen Punkt, welcher die einzige mögliche Rückzugslinie der Feinde bildete und hätte Giulay ſich in Lindenau behaupten können, wäre Napoleon mit ſeiner ganzen geſchlagenen Armee in Leipzig eingeſchloſſen geweſen, da ein Durchbrechen gegen Lindenau bei der Beſchaffenheit des dortigen Terrains zu dem Unmöglichkeiten gehörte. Schon hatte General Bertrand den größten Theil ſeiner Truppen bis zum Kuhthurme und der Ziegelſcheune zurückgezogen, als Napoleon davon Nachricht erhielt und um jeden Preis Lindenau wieder zu erobern und zu behaupten befahl. Dies geſchah mit ungeheuren Opfern. Am 19. October brachte Napoleon einige Stunden in der hieſigen Mühle zu, wo er Befehle zur Sammlung der verſchiedenen Corps gab. Das Dorf hatte damals durch Requiſitionen, Feuer, Plünderung und Demolirung fürchterlich gelitten.

Von hierher gehörigen Curioſitäten iſt zu bemerken, daß am 3. März 1684 hier ein furchtbares Donnerwetter losbrach und ein Wetterſtrahl eine beim Kuhthurme ſtehende vielhundertjährige Eiche von oben bis zur Wurzel in vier Stücken auseinander ſchmetterte. Am 8. October 1678 hat es in Lindenau — Blut geregnet! Ein Mühlknappe, welcher am 12. Auguſt 1709 ſeinen Kameraden erſtach, wurde nach erlangter Defenſion mit Staupenſchlägen des Landes ewig verwieſen. Bemerkenswerth iſt auch, daß 1741 der Körper des beim Brückenbau ins Waſſer gefallenen und ertrunkenen Zimmermanns Tobias Regel aus Knauthain deſſen Wittwe und Kindern vom Rathe geſchenkt wurde. Am Stege vor Lindenau, ſtatt deſſen kürzlich eine breite Brücke gebaut worden iſt, wurde am 28. Februar 1654 Judith Hauſchild aus Schönau, weil ſie ihr Kind erdrückt hatte, in einen Sack geſteckt und ins Waſſer geworfen. Auf der Wieſe, unfern der Mühle, hielten am 15. Mai 1702 der Kapitain Seneer und der Lieutenant von Schauroth, weil Dieſer Jenem eine Spielſchuld von 100 Ducaten auszuzahlen ſich weigerte, ein ſeltſames Duell ab. Sie wechſelten Beide Kugeln und als der Kapitain ſich verſchoſſen hatte und auf ſeinen Gegner mit dem Degen losgehen wollte, ſchoß ihm dieſer eine Kugel ins Herz. Der Thäter ſalvierte ſich durch die Flucht.

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Der Text entstammt dem Buche:

Die Umgebung Leipzig’s in geschichtlichem Abriß der nächstliegenden Sechsundfünfzig Dörfer dargestellt von Otto Moser. Leipzig: M. G. Prieber, 1868. Seiten 45–48

Die zeitgenössische Rechtschreibung wurde beibehalten.